Cover
Titel
Spartakiads. The Politics of Physical Culture in Communist Czechoslovakia


Autor(en)
Roubal, Petr
Reihe
Václav Havel Series
Erschienen
Anzahl Seiten
412 S.
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Zwicker, Wiesbaden

Die Spartakiaden waren zweitägige Großveranstaltungen, die das kommunistische Regime der Tschechoslowakei von 1955 bis 1985 (mit Ausnahme des Jahres 1970) in der Hauptstadt Prag durchführte. Die aufwendigen gymnastischen Massenvorführungen dienten der propagandistischen Affirmation von Staat und Partei. Zentraler Schauplatz war das Strahov-Stadion (früher Masaryk-Stadion), das 1926 für die Feste des nationalen Turnverbands Sokol („Falke“) mit einem Fassungsvermögen von 250.000 Zuschauern erbaut worden und damals das größte Stadion der Welt war. Es liegt ein gewisses Paradox darin, dass die Kommunisten den Sokol, der im Widerstand gegen die nationalsozialistischen Besatzer eine wichtige Rolle gespielt hatte, einerseits als „bourgeoises Relikt“ gleichschalteten und enteigneten sowie nicht wenige seiner Funktionäre verfolgten und verurteilten, andererseits aber Feiern organisierten, die in vielem auf die slety („Zusammenflüge“) der „Falken“ zurückgriffen (S. 62–69). Auch gab es bei den Choreographen wie auch bei älteren Teilnehmern eine nicht unbeträchtliche personelle Kontinuität.

Der am Institut für Zeitgeschichte der Tschechischen Akademie der Wissenschaften tätige Historiker Petr Roubal hat das Buch bereits 2016 unter dem Titel „Československé spartakiády“ vorgelegt. Dank der Übersetzung ist die Publikation, die mit dem renommierten Literaturpreis Magnesia Litera ausgezeichnet wurde, nun auch einem internationalen Publikum zugänglich. Basierend auf einer breiten Quellenbasis analysiert der Verfasser Symbolik, Organisation und gesellschaftliche Bedeutung der Spartakiaden. Während zum Sokol bereits eine breite Forschung vorliegt1, stand eine Analyse der Spartakiaden bislang aus.

Im ersten Kapitel widmet sich Roubal ausführlich ihrer Vorgeschichte, die neben dem Sokol auch durch andere Akteure geprägt war. Dazu gehörten Organisationen der tschechischen Sozialdemokraten und Kommunisten, die 1921 parallel Vorläufer der Spartakiaden abhielten, aber auch der Gegenpart des Sokol auf sudetendeutscher Seite, der Deutsche Turnverband (DTV), dessen bekanntester „Vorturner“ Konrad Henlein war, der spätere Gründer der Sudetendeutschen Partei und dann Gauleiter des Sudetenlandes. Hier hätte man sich eine etwas ausführlichere Betrachtung gewünscht, zumal Roubal weniger auf den DTV als auf die („reichs“-)Deutsche Turnerschaft eingeht, der die deutschen Turner nach Gründung der Tschechoslowakei nicht mehr angehörten konnten. Die Großveranstaltungen dieser Verbände hatten gemeinsam, dass sie über die sportliche Ebene hinaus eine politische bzw. nationale Botschaft transportierten.

Roubal analysiert souverän die verschiedenen Ebenen und Rollen – politisch-propagandistisch, sozial, wirtschaftlich, kulturell – der Spartakiaden, indem er Staat und Partei als Organisatoren ebenso wie die aktiven Teilnehmer und die Zuschauer in den Blick nimmt. Organisatorisch und finanziell stellten die Festspiele jeweils einen Kraftakt dar, besonders was die Unterbringung, Versorgung und den Transport der Teilnehmer mit öffentlichen Verkehrsmitteln betraf. Obwohl sogar eigenständige Fünfjahrespläne für die Veranstaltungen erstellt wurden, kam es nicht selten zu Engpässen, sodass etwa der Staatssicherheitsdienst (Státní bezpečnost) 1985 von Protesten beim Verlassen des Stadions berichtete, weil die Zuschauer hungrig gewesen seien.

1970 fand keine zentrale Spartakiade statt. Allgemein galten befürchtete Proteste gegen das Regime und die einsetzende „Normalisierung“ als Grund für die Absage. Der Autor weist darauf hin, dass auch der zeitliche Verzug bei dringend notwendigen Baumaßnahmen eine Rolle spielte (S. 297). Für die „Normalisierung“ der 1970er- und frühen 1980er-Jahre konstatiert Roubal einen Paradigmenwechsel (S. 186ff.): Statt des Aufbaus des Sozialismus, dessen vorgebliche Ideale spätestens seit dem Einmarsch der Armeen aus den „Bruderstaaten“ in breiten Kreisen gründlich diskreditiert waren, habe nun häufig die Familie im Vordergrund gestanden. So gab es nun auch große Mutter-Kind-Choreographien, die gelegentlich von leistungsorientierten Turnfunktionären als anspruchslos kritisiert wurden (S. 197–203). Auch die bis dahin vorherrschenden und miteinander verbundenen, idealisierten Darstellungen von Männlichkeit und Militär verloren dem Verfasser zufolge an Bedeutung. Man fand nun Raum für „zivilere“ Darbietungen, die allerdings nicht immer als unbedenklich wahrgenommen wurden, da sie sexuell konnotierte, in knappen Dressen vorgeführte Choreographien junger Frauen und halbwüchsiger Mädchen, den „Knospen“ (tschechisch poupata, englisch buds, S. 210–213, 366) einschlossen. Roubal merkt an, dass bei den Spartakiaden der 1950er-Jahre „Jugend“ als eine Einstellung zum Leben gepriesen wurde, sodass auch Ältere als „jung“ gelten konnten, sofern sie nur über die „richtige“ Überzeugung verfügten. Dagegen hätten die Veranstaltungen der Siebziger die Jugend vor dem Hintergrund von Fortpflanzung und Mutterschaft sexualisiert, was Parallelen zur Ideenwelt des Sokol, aber auch des Faschismus aufweise (S. 210f.).

Interessant sind auch die verschiedenen Gruppen, die den Spartakiaden ablehnend und widerständig gegenüber auftraten, weil sie in ihnen Manifestationen des Regimes sahen. So widmet sich Roubal am Anfang des fünften Kapitels „Society and Spartakiads“ den Slowaken und der polnischen Minderheit, die die Spiele – besonders in den 1950er-Jahren – als Ausdruck eines tschechischen Herrschaftsanspruchs wahrnahmen, sowie den Dissidenten, die die offene Atmosphäre und die vermehrte Anwesenheit von Ausländern wiederum nutzten, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Nicht zuletzt geraten die Fußball-Hooligans in den Blick, die ihre gewalttätigen Aktionen ab den 1970er-Jahren – ähnlich wie in der DDR – manchmal auch als eine Art diffusen Protest verstanden.

Abschließend konstatiert der Autor, dass die Spartakiaden als Volksbelustigung (Reise in die Hauptstadt, Einkäufe, Möglichkeit zu sexuellen Eskapaden) zwar erfolgreich und durchaus populär waren, sie für das ideologisch-didaktische Ziel, eine neue sozialistische Gesellschaft zu propagieren, aber ein „Flop“ gewesen seien (S. 363). Eine erhöhte Identifikation mit dem Regime sei nicht erreicht worden. Diejenigen, die in den gymnastischen Vorführungen einen tieferen Sinn gesehen hätten, seien größtenteils Menschen mit Sokol-Hintergrund gewesen – etwa der Schriftsteller und Dissident Ludvik Vaculík (1926–2015), der sich an seine Mitwirkung an der Spartakiade 1955 durchaus positiv erinnerte und der noch 2006 Teilnehmer der Feste gegen den Vorwurf in Schutz nahm, sie hätten damit dem System gedient.

Das Buch, das mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotos anschaulich illustriert ist, rundet ein farbiger Abbildungsteil mit Plakaten und Propagandafotos, aber auch Alltäglichem wie dem Sonderplan des Prager Nahverkehrs zum Fest 1965, gelungen ab. Als kleines formales Manko könnte man anführen, dass Eigennamen tschechischer Organisationen oft nur in der englischen Übersetzung angeführt werden, Übersetzungen der Titel tschechischer Literatur in den Anmerkungen und im Literaturverzeichnis fehlen. Insgesamt jedoch macht Roubal eindrücklich deutlich, dass die Bedeutung der Spartakiaden weit über eine „Geschichte der Leibesübungen“ hinausgeht. Die Publikation belegt, dass der Sport (fasst man ihn im weiteren Sinne auf) für die tschechische Geschichte eine besondere Rolle spielt.2 Da der Sport und seine gesellschaftliche Bedeutung in der internationalen Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren immer mehr Beachtung gefunden haben3, ist es sehr erfreulich, dass Roubals verdienstvolles Buch nun auch Lesern vorliegt, die des Tschechischen nicht mächtig sind.

Anmerkungen:
1 Als Standardwerk sei genannt: Claire E. Nolte, The Sokol in the Czech Lands to 1914. Training for the Nation, Basingstoke 2003; ferner die verschiedenen Arbeiten des Prager Historikers und Sportwissenschaftlers Marek Waic.
2 Vgl. u.a. Martin Pelc, Sport a česká společnost do roku 1939. Osobnosti, instituce, reflexe [Der Sport und die tschechische Gesellschaft bis zum Jahr 1939. Personen, Institutionen, Reflexionen], Praha 2018.
3 Siehe auch Stefan Zwicker, Sport in the Czech and Slovak Republics and the Former Czechoslovakia and the Challenge of Its Recent Historiography, in: Journal of Sport History 38 (2011), S. 373–385; Jenifer Parks / Stefan Zwicker, ‘Revising’ the Sporting Map of Eastern Europe, in: The International Journal of the History of Sport 37 (2020), 15, S. 1501–1516. Der Rezensent ist auch beteiligt an dem „work in progress“ Anke Hilbrenner u.a. (Hrsg.), Handbuch der Sportgeschichte Osteuropas, https://www.ios-regensburg.de/publikationen/online-publikationen/handbuch-der-sportgeschichte-osteuropas.html (01.11.2021).

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